Vor 80 Jahren: Drei tragische Ereignisse am nördlichen Elmrand – Teil 2

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Von Dr. Diethelm Krause-Hotopp

Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg mit der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht. Für viele Menschen bedeutete der Frieden ein Aufatmen und neue Hoffnung auf ein Leben in Frieden und Freiheit.

Im April 1945, noch kurz vor Ende des Krieges, gab es drei Ereignisse in der nördlichen Elm-Region, die nicht in Vergessenheit geraten sollten. Am 10. April verließ die SS mit ca. 1.300 Gefangenen fluchtartig das Konzentrationslager Schandelah. Am 11. April ermordeten fanatische Nazis am Rand von Schandelah den Bürgermeister, Heinrich Jürgens, und den Hausarzt, Dr. Fritz Zschirpe. Am 21. April wurde die Region durch Gefechte zwischen Amerikanern und Resten der Deutschen Wehrmacht erschüttert. Dabei starben noch Menschen.

Zwei Morde in Schandelah – Bürgermeister Heinrich Jürgens und der Arzt Dr. Fritz Zschirpe

Unmittelbar vor Kriegsende kam es zu tragischen Ereignissen in Schandelah (heute Landkreis Wolfenbüttel), denen zwei im Ort angesehene Männer zum Opfer fielen. Seit 1928 war Bauer Heinrich Jürgens, Mitglied der NSDAP seit 1937, zunächst Ortsvorsteher später Ortsbürgermeister. Dr. Fritz Zschirpe hatte seine Arztpraxis seit 1913 in Schandelah.

Um das Geschehen in Schandelah zu verstehen, muss kurz auf die Ereignisse im per Luftlinie 11 Kilometer entfernten Braunschweig eingegangen werden. Am 6. April erschien in der Braunschweiger Tageszeitung der fanatische Appel des Gauleiters Lauterbacher: „Lieber tot als Sklav!“ Darin wurde die Todesstrafe für Feiglinge und Verräter angedroht – in Braunschweig auch durchgeführt (z.B. Erschießung Landrat Dr. Bergmann). In der Stadt überschlugen sich die Ereignisse um den 11. April. Die amerikanischen Truppen rückten unaufhaltsam auf Braunschweig vor. Hier führte NSDAP-Kreisleiter Bertold Heilig sein Schreckensregiment. Als er am 10. April gegen 23 Uhr erfuhr, dass die Stadt Braunschweig kampflos an die Amerikaner übergeben werden sollte, kam er aus der Festung Harz, in die er zuvor vom Gauleiter abkommandiert war, sofort nach Braunschweig zurück und verkündete am Morgen des 11. April Braunschweig zur Festung, die „bis zum letzten Blutstropfen“ verteidigt werden sollte. Dazu gehörten auch zwei Kompanien des fanatisierten Jugend-Volkssturms, der unter der Leitung des überzeugten Braunschweiger Nazi Hein Stünke stand. Er war Leiter der Akademie für Jugendführung in Braunschweig (HJ).

Am Abend des 11. April erkannte Heilig die Aussichtslosigkeit, resignierte und setzte sich gegen 22 Uhr Richtung Berlin ab. Gegen Mitternacht rückten die Amerikaner in die Stadt ein. Am 12. April 1945, gegen 3 Uhr, wurde von Oberbürgermeister Dr. Bockler und Polizei-Hauptmann Stahl für die Stadt ein dreiseitiges Kapitulations-Schriftstück unterschrieben.

Situation in Schandelah

Auch in der Ortschaft Schandelah bereiteten sich die Menschen auf die Ankunft der amerikanischen Truppen vor. An den Ortseingängen wurden drei Sperren aufgebaut, um die Amerikaner am Eindringen in ihr Dorf zu hindern. Sicherlich waren davon nicht alle begeistert und fürchteten um ihr Dorf und ihr Leben. Aber noch befahlen besessene Nazis und die Angst vor den Folgen der Verweigerung trieben die Menschen zu sinnlosen Handlungen.

Am Vormittag des 10. April war Dr. Zschirpe im Außenbereich von Braunschweig auf Patientenbesuch unterwegs. Im Drahtfunk hörte er von der Braunschweiger Kreisleitung, dass Panzersperren geöffnet werden sollten. Da in einigen Orten diese Sperren schon geschlossen worden waren, obwohl der Feind noch nicht vor Ort war, wurde der Verkehr behindert. Ob Dr. Zschirpe diese Nachricht so an seine Frau weitergab, kann nicht gesagt werden. Sie soll jedenfalls an die Frau des Bürgermeister Jürgens weitergeben haben, dass die Sperren zu öffnen seien. Ihr Mann sorgte sofort für die Weitergabe an die Bevölkerung. Es ist davon auszugehen, dass zahlreiche Dorfbewohner diese Information mit Erleichterung aufnahmen; aus der Information wurde nun ein Befehl, die Sperren abzubauen. Dieser wurde sofort in die Tat umgesetzt.

Als ein Trupp Hitlerjungen zufällig an der Sperre am Bahndamm vorbei kam, verbot der Truppführer sofort den weiteren Abbau. In der Auseinandersetzung müssen dann auch die Namen Jürgens und Zschirpe als Auftraggeber gefallen sein. Damit nahm das unheilvolle Geschehen seinen Verlauf, denn die fanatisierten Hitlerjungen gaben ihre Information schnell weiter.

Bürgermeister Jürgens, mit den Befehlsstrukturen des NSDAP-Apparates besten vertraut, hatte sich zur Absicherung beim Volkssturmbataillionsführer in Gardessen erkundigt und erfahren, dass die Sperren schnellstens wieder aufzubauen wären. Dies wurde von ihm auch sogleich angeordnet.

Inzwischen war die Information zum Oberleutnant K. gelangt, der geschwind nach Schandelah fuhr, um sich ein Bild vor Ort zu machen. Er führte mit Bürgermeister Jürgens und dem Ortsgruppenleiter der NSDAP Dempewolf ein ernstes Gespräch, dabei wies er darauf hin, was bei „Sabotage“ zu erwarten sei.

Oberleutnant K. war in der Befehlsstruktur bestens eingebettet und meldete die Vorgänge in Schandelah an den Befehlsstand im Nussberg. Ortsgruppenleiter Dempewolf musste daher zum Gespräch antreten und bekam gehörig Druck. Er machte aber deutlich, dass in Schandelah alles den Befehlen entsprechend geordnet war.

Während des Tages hatte sich die Kompanie Giersberg im Forsthaus Cremlingerhorn niedergelassen und einen Gefechtsstand eingerichtet. Bei Beobachtungsfahrten in die Umgebung müssen sie von den Ereignissen in Schandelah erfahren haben. Man kann sich gut vorstellen, wie aufgebracht die fanatisierten Jungmänner der Führungsakademie waren. Sie nahmen die Durchhaltebefehle immer noch sehr ernst. Gegen Abend war der Abbau der Panzersperren in Schandelah auch Thema bei einer Besprechung von Unterführern im Offiziersrang. Sie machten Jürgens und Zschirpe für den Vorfall verantwortlich. Es kann davon ausgegangen werden, dass durch Alkohol die Stimmung noch zusätzlich aufgeheizt wurde. Man beschloss, die beiden wegen Sabotage und defätistischen Verhaltens um Mitternacht zu erschießen. Auf Motorrädern ging es nach Schandelah, das nur ca. 3 km entfernt lag.

Zuerst wurde Jürgens per Genickschuss auf einem Feld erschossen und dort in einem Loch verscharrt. Anschließend holten sie Dr. Zschirpe aus dem Haus, den sie in einem Waldstück Richtung Cremlingen erschossen. Seine Leiche bedeckten sie mit Laub und Zweigen.

Die Familien gingen davon aus, dass die Männer nach Braunschweig gebracht worden waren. Erst Tage später wurde zunächst die Leiche von Jürgens auf dem Acker gefunden. Danach machte man sich auf die Suche nach Dr. Zschirpe, den man im Wald fand.

1948/49 fand vor dem Schwurgericht in Braunschweig der Prozess gegen fünf Angeklagte (ehemalige HJ-Bannführer und Offiziere der Jugendakademie des HJ-Führerkorps Braunschweig) statt. Zwei Angeklagte wurden freigesprochen, einer erhielt vier Jahre Gefängnis, einer sechs Jahre und einer sieben Jahre. In der Folge setzten sich Familienangehörige für Haftverkürzung ein und waren damit auch erfolgreich. Ihnen ging es um den Nachweis der Unschuld der Täter.

Während man in Schandelah die Opfer des naheliegenden KZ-Schandelah in Vergessenheit geraten ließ, wurden schon frühzeitig zwei Straßen nach Jürgens und Dr. Zschirpe benannt und eine Gedenktafel auf dem Erinnerungsplatz an der Kirche angebracht.

Fotos: Heinrich Jürgens und Fritz Zschirpe