Glück und gute Vorbereitung: Vor 50 Jahren gelang acht Menschen die Flucht über die innerdeutsche Grenze.

Von Frank Wöstmann

Wolfenbüttel. Diese Geschichte sollte eigentlich nie erzählt werden. Noch 2019, als der NDR wegen einer Dokumentation an die Protagonisten herantrat, winkten diese entschieden ab: „Das Fernsehen wollte zum Jahrestag der Grenzöffnung richtig groß berichten und auch Details aus unserer Stasi-Akte veröffentlichen“, berichtet Uwe Kiel. „Das hätten unsere Eltern aber nicht überstanden, wir lehnten das ab.“

So wäre es wohl geblieben, wenn der Sickter Uwe Schäfer das Ehepaar nicht im November kennengelernt hätte – der CDU-Politiker sprach als stellvertretender Landrat bei der Eisernen Hochzeit (65 Jahre) der beiden. „Heute bin ich dankbar, dass sie nun einer Veröffentlichung zugestimmt haben“, sagte Schäfer jetzt vor geladenen Gästen im Sportheim des SV Roklum. Gleich nebenan, am Ortsrand im Großen Bruch, hatte sich vor exakt 50 Jahren eine spektakuläre Flucht abgespielt, von der die Eheleute Edgar (heute 84) und Helene Kiel (83) sowie ihre Söhne Uwe (65) und Mario (58) erzählten.

„Wir wohnten damals in Edersleben bei Sangerhausen. Als Selbständige musste meine Familie Landwirtschaft, Fleischerei, Gaststätte und Milchgeschäft früh in die Verstaatlichung abgeben, und auch mein Berufswunsch Förster wurde mir durch die Situation in der DDR unmöglich gemacht“, berichtete Edgar Kiel. Ein Lehrer habe dem Gymnasiasten damals gesagt, „Kinder von Kapitalisten kommen nicht auf unsere Hochschulen“. Von diesem Moment an gab es für den jungen Mann nur ein Ziel: Flucht in die Bundesrepublik.

Um dieses Ziel richtig einordnen zu können, führe man sich die damaligen Gegebenheiten vor Augen: Im August 1961 wurde in Berlin die Mauer errichtet, ab sofort verlief mitten durch Deutschland die bestbewachte Grenze Europas, der Eiserne Vorhang. In den folgenden Jahren entwickelten die Grenztruppen der DDR ein perfides System aus Zäunen, Drahtsperren, Minenfeldern, Selbstschussanlagen und Signaldrähten. Das Leben des Einzelnen zählte nichts, Hauptsache, die „Republikflucht“ wurde verhindert.

Die Zahl der Fluchtversuche, ob gescheitert oder geglückt, lässt sich nicht genau ermitteln. Fest steht, dass mehrere hundert Menschen ihren Drang nach Freiheit mit dem Leben bezahlten. Die Sache wollte also gut überlegt sein. „Zudem war klar, dass wir niemandem etwas erzählen durften, denn selbst nach erfolgreicher Flucht hätte es für Mitwisser übele Folgen gehabt.“ Die Eltern ließen sogar ihre Kinder zunähst im Unklaren.

Vor 1974 hatten die Kiels schon mehrere Fast-Fluchten gestartet: In Bratislava wollten sie einen Ausflugsdampfer kapern und über die Donau aus der damaligen CSSR fliehen. „Erst wenige Minuten vor dem entscheidenden Schritt stellte sich heraus, dass es durch die Sicherungen an Bord nicht möglich war, das Kommando zu übernehmen.“ Eine Flucht im Motorboot über die Ostsee wurde wochenlang auf der Unstrut geübt. „Wir wollten lernen, das Boot möglichst schnell, aber leise zu fahren.“ Engmaschige Kontrollen verhinderten den Transport des Bootes an die Küste.

Die Reise ans Große Bruch bei Roklum war also der dritte Anlauf. „Durch einen befreundeten Grenzer hatten wir erfahren, dass dieser Abschnitt etwas veraltet war.“ Zudem war die Lage günstig: „Aus dem Fallstein hatten wir einen guten Blick auf Grenze und Sicherungsanlagen.“ Nachdem eine erste Erkundung fast aufgeflogen wäre (zum Glück war der beteiligte Förster unbewaffnet), wurde schließlich der 1. Januar 1974 als Tag der Flucht festgelegt. „Wir wussten, dass die Grenztruppen über die Feiertage nur halbe Stärke hatten.“ Außerdem ideal: Kein Mond, Frost, trocken.

Acht Personen trafen um 22 Uhr im Fallstein ein, neben den Kiels noch zwei befreundete Familien, allesamt mit Rucksäcken. Zunächst ging es mehrere Kilometer über gefrorenen, gepflügten Acker – zum Glück hatte Vater Kiel diese Anstrengung mit den Kindern trainiert. „Je näher wir der Grenze kamen, desto angespannter waren unsere Sinne“, erzählte Uwe Kiel. „Mir ist heute noch das Leuchten der Suchscheinwerfer in Erinnerung. Das werde ich nie vergessen.“

Erste Hürde war ein kniehoher Signaldraht, den die Männer mit Hilfe eines Schweißdrahts erfühlten, den sie vorsichtig in zwei Fingern hielten. Dann kam ein breiter Wassergraben. „Die Männer standen bis zum Bauch im eiskalten Wasser und haben die anderen ans andere Ufer getragen.“ Letzte Hürde war das mit Stacheldraht eingezäunte Minenfeld. „Der Stacheldraht wurde mit einer Zange zerschnitten, dann ging einer der Männer mit selbst gebastelten Minenschuhen über das Feld – Gott sei Dank kam es zu keiner Explosion!“ Dann folgten die anderen im Gänsemarsch auf genau dieser Spur. „Noch ein paar Meter bis zum eigentlichen Grenzfluss, dann hatten wir es geschafft und standen auf dem Gebiet der Bundesrepublik.“

Was sich so schnell liest, dauerte Stunden. Gegen 7 Uhr stieß die Gruppe am Ortsrand von Roklum auf eine Frau, die gerade zur Arbeit wollte. „Sie erschrak sehr und dachte bei uns Schlammgestalten wohl, jetzt kommen die Russen.“ Doch die Sache war schnell aufgeklärt, und die Flüchtlinge durften zum Aufwärmen ins Haus. „Später brachten uns Busse in die Zollstelle nach Hornburg. Wir mussten viele Fragen beantworten, bis die erstaunten Beamten unsere spektakuläre Flucht wirklich glaubten. Danach kam der Verfassungsschutz, und auch die Engländer wollten einiges wissen.“

Diesen Teil bestätigte beim Treffen im SV-Sportheim Bernd Kahnert. Der Wolfenbütteler war viele Jahre lang Kommandeur der Grenztruppen Helmstedt/Wolfenbüttel – auf westdeutscher Seite. „Man musste sich bei Flüchtlingen immer vergewissern, schließlich konnte es sich auch um eingeschleuste Spione handeln.“ Im Übrigen sei die Idee der selbstgebastelten Minenschuhe richtig gewesen: „Die Sprengladungen waren recht gering ausgelegt. Den Grenztruppen genügte es, wenn Flüchtlingen Fuß oder Bein abgerissen wurde – das hätten die Schuhe wohl verhindert.“

„Der Frost war unser Verbündeter“, meint zudem Edgar Kiel. „Er hat die Minen etwas unsensibel gemacht.“ Er und seine Familie wurden nach der Flucht und dem Aufenthalt im Durchgangslager Friedland in Niedersickte ansässig. Sie haben ihren Schritt nie bereut, auch wenn zunächst kaum Freude aufkommen wollte. „Nachdem die Flucht entdeckt wurde, hatten unsere Verwandten eine harte Zeit. Es gab schlimme Verhöre bei der Stasi. „Als Erstes wollten sie meine Mutter  mit einem Schock überrumpeln, indem sie behauptet haben, die Kinder wären bei der Flucht erschossen worden.“

Der Bruder von Helene Kiel und auch ihr Cousin mit Ehefrau waren eingeweiht und mussten dreieinalb Jahre in Haft. „In Sickte tauchten Stasi-Spitzel auf, befragten uns und wollten uns zur Rückkehr bewegen.“ Aus der DDR kamen Briefe einer Tante, sie sollten doch zurück kommen. „Von der Stasi diktiert! Der Staat hat alle Register gezogen, uns zurückzuholen.“

Doch daraus wurde nichts. „Natürlich standen wir bei der Flucht und schon während der Vorbereitung unter großem Druck“, erzählt Edgar Kiel. „Wären wir aufgeflogen, hätte das Gefängnis bedeutet, obendrein hätte man uns die Kinder weggenommen.“ Gleichwohl bereut er diesen Teil seiner Familiengeschichte nicht, der ja ein Teil der deutsch-deutschen Geschichte wurde.

„Gerade in Zeiten schwieriger Nachrichten kann diese Erzählung auch Mut machen“, meint Uwe Schäfer. Nicht die Macht habe das Recht, sondern das Recht habe die Macht. „Gerade auch im Hinblick auf die kriegerischen Ereignisse in der Ukraine und Israel: Man muss sich gegen Unrecht auflehnen und darf sich nicht unterkriegen lassen.“

Die vier Mitglieder der Familie Kiel (von links): Helene, Edgar, Uwe und Mario mit dem Organisator des Treffens beim SV Roklum, Uwe Schäfer. Vorn auf dem Tisch liegt ein selbstgebauter Minenschuh, außerdem ein Schweißdraht, mit dem während der Flucht 1974 die Hindernisse ertastet wurden.  Foto: Regio-Press

Bevor es im Roklumer Vereinsheim um die Theorie ging, nahmen die Gäste um Edgar Kiel (Mitte) die Praxis im winterlichen Großen Bruch zur Kenntnis: Bei Regen und eisigem Wind. Foto: Regio-Press